18. Oktober 2022

Christoph Keese im Gespräch: Prozesse werden nur digitalisiert, statt reformiert

Christoph Keese im Gespräch: Prozesse werden nur digitalisiert, statt reformiert

Christoph Keese ist einer der maßgeblichen Digitalisierungsexperten, gefragter Vortragsredner und gehört zu den Mitgründern der Financial Times Deutschland. Außerdem leitete er als Chefredakteur die WELT am Sonntag und WELT Online. Vor kurzem hat Christoph Keese sein neues Buch „Life Changer – Zukunft made in Germany: Wie moderner Erfindergeist unser Leben verändert und den Planeten rettet“ publiziert und ist Gesellschafter und Co-CEO von hy. Dabei begleitet er namhafte Unternehmen und Regierungsinstitutionen bei Fragen der digitalen Transformation und technologischen Innovation.

Am 20. Oktober 2022 ist er als Keynotespeaker auf der Amagno.Connect zu Gast und zeigt in seinem Vortrag auf, warum wir modernen Erfindergeist und eine neue Gründerkultur brauchen, um Deutschland nach vorne zu bringen. Im Gespräch mit Amagnos CEO Jens Büscher sprechen die beiden über ihre Silicon-Valley-Erfahrungen, die neue Mitarbeiter- und Entscheidergeneration, aber auch über agile Unternehmen und zunehmende Mobilität.

Christoph Keese über New Work und Home-Office-Pflicht in Zeiten von Corona

Jens Büscher: Lass‘ uns einen kleinen Sprung machen und nochmal über mobiles Arbeiten sprechen: Als digitales Unternehmen hat uns die abrupte Home-Office-Pflicht der Regierung aufgrund von Corona nicht allzu schwer getroffen. Wir haben unsere Mitarbeiter bis heute zu ihrem Schutz freiwillig die Option des Remote Office gegeben. Die ersten Gespräche für eine flexible Rückkehr trafen auf so starke Ablehnung, dass wir das Remote-Office jetzt jedem Mitarbeiter dauerhaft ermöglichen. Sowas bedeutet allgemein aber auch gleichermaßen das Ende der Büros oder die Abwendung von heimischen Mitarbeitern zu vergünstigten international arbeitenden Kollegen. Welche Vor- und Nachteile dieser Bewegung siehst du?

Christoph Keese: Wenn du es dann mit der Kultur noch hinbekommst… Verlängerte Werkbank geht immer, aber wer ist denn der Kulturträger des Unternehmens? Die Kultur ist ja dann das einzig Entscheidende. Was ist dann der USP? Es kann dann nur noch die Kultur sein, weil es keinen anderen USP mehr gibt. Und das kommodifiziert jede Form von Arbeit. Also ist die Kultur der einzig entscheidende Faktor. Das heißt nicht, dass sie nicht entstehen kann. Die Mitarbeiter bei der Outdoor-App Komoot haben beispielsweise – unabhängig von Corona – noch nie zusammen an einem Ort gearbeitet. Alle arbeiten bei sich zu Hause und rund um die Welt verteilt. Es ist ihnen gelungen, eine Kultur zu erzeugen und das ist eine beeindruckende Leistung.

„Arbeiten in der Gruppe fühlt sich so an wie der Sommerurlaub.“

Bei hy hat sich ein jährliches Retreat für alle Mitarbeiter etabliert. Drei Tage sind dabei mit und zwei Tage ohne Programm. Alle die da waren, empfinden es immer als harten Strömungsabriss, wieder zu Hause zu sitzen und von dort aus zu arbeiten. Obwohl das Gefühl des Strömungsabrisses da ist, bleibt völlig ungeklärt, was die Alternative dazu ist. Man spürt den Strömungsabriss, möchte aber trotzdem irgendwie nicht so gerne ins Büro kommen und freut sich deshalb auf den nächsten Retreat. Wenn das die prävalente Entwicklung sein sollte, bleibt einem als Unternehmen kaum etwas anderes übrig, als zwei oder drei von solchen Retreats pro Jahr zu machen. Dann fiebert man dem kommenden Retreat wegen sozialen Reichtums entgegen – und dann fühlt sich Arbeiten in der Gruppe so an wie der Sommerurlaub, auf den man sich das ganze Jahr über so gefreut hat. Das muss nichts Schlechtes heißen.

Von vielen Unternehmen höre ich, dass es meistens schief geht, wenn sie versuchen, die Rückkehr ihrer Leute zu erzwingen. Auch da ist Elon Musk wieder der Radikalste. Er hat ja seine Belegschaft per Mail wissen lassen: „40 Stunden im Büro – und wer nicht erscheint, bei dem gehe ich davon aus, dass er gekündigt hat und überweise ihm kein Gehalt mehr.“ Damit wird Musk sich nicht durchsetzen können und es wird auch sicherlich nicht das Modell werden. Nach allem, was ich so höre und meiner Arbeit im BDA Digitalrat, experimentieren alle Unternehmen mit irgendeiner Form von Incentivierung, die Leute wieder zurück ins Büro zu kriegen. Mit durchschnittlichem Erfolg, so gut wie nie aber mit Zwang.

Mit neuer Mitarbeitergeneration ist eine rosige Zukunft programmiert?

Jens Büscher: Gerade die neue Mitarbeitergeneration ist sehr stark allergisch gegen Zwang. Das ist ja quasi durch die neue Form der Erziehung mitgegeben. Wir haben eine Ablehnung gegen Zwang. Je mehr aufdiktiert ist, je mehr Zwang ist es, je höher die Ablehnung. Das kann nicht der Weg sein, die Kollegen zusammenzubringen. Das muss aus den Personen heraus selbst kommen. Die Formate müssen also so interessant sein, dass sie Lust haben, vor Ort mit dabei zu sein.

Christoph Keese: Das ist richtig. Man muss ja auch schauen, dass der Markt auch reagiert. So wie der Domizilierungsmarkt zum Beispiel. Nehmen wir Griechenland. Griechenland bietet digitalen Migranten einen extrem reduzierten Steuersatz von 10 bis 15 Prozent Einkommensteuer. Einzelne Inseln in Griechenland haben komplett auf Solarenergie umgestellt und fahren nur noch mit Elektroautos. Mit ihrem lukrativen Portfolio haben sie sich deshalb mittlerweile als Refugien für Wirtschaftsnormaden positioniert. So beschließen viele Arbeitnehmer, ihre Zelte hier abzubrechen und dorthin zu ziehen. In Griechenland gibt es deutsche Schulen, Licht, Luft, Strand, super saubere Energie – und man zahlt nur ein Drittel der Einkommenssteuer.

Lissabon und Mallorca gehen übrigens in ähnliche Richtungen. Von Mallorca aus erreichst du die meisten deutschen Ziele besser als von Berlin, weil der Flughafen besser angebunden und die Flugverbindungen in die meisten Gegenden der Welt besser sind als in Berlin. Es könnte natürlich sein, dass dieser Domizilierungsmarkt schlussendlich schief geht und am Ende nur noch der operative Worker in Deutschland vor Ort ist, weil er wegen seiner eingeschränkten Mobilität das Angebot der griechischen Inseln nicht entgegennehmen kann. Aber das weiß natürlich keiner im Vorfeld.

„Es gibt schon ernstzunehmende Prognosen, die davon ausgehen, dass Energie nach Norden abwandert.“

Produzierende Wirtschaft ist immer da entstanden, wo Energie ist. Es gibt kein Wirtschaftscluster auf der Welt, das nicht um die Energie herumgebaut wurde. In Deutschland ist bereits das Problem, dass Bayern und Baden-Württemberg die Energie schlicht nicht haben und die geballte Energie im Norden liegt. Es gibt schon ernstzunehmende Prognosen, die davon ausgehen, dass Energie nach Norden abwandert. Wenn du jetzt aber windreiche Gegenden hast, die zusätzlich über eine Menge Solarenergie verfügen und der gerade beschriebene Trend in den nächsten 15 Jahren weitergeht, kann nicht ausgeschlossen werden, dass das produzierende Gewerbe dem folgt, weil die Leute dort sind. Dann hast du plötzlich Talent, Arbeiter, Energie und niedrige Steuersätze. Wenn du dich dann auch noch über gute Schulen, Demokratie und eine stabile Währung freuen kannst, dann ist das eigentlich eine angenehme Zukunft.

Digitalisierung und Automatisierung als Beschleuniger des technologischen Fortschritts?

Jens Büscher: Eine letzte Frage habe ich noch, bevor wir zum Ende kommen: Als Softwarelösung für digitale Dokumente und Prozesse konnten wir viele Firmen dabei untersützen, während der Pandemie im Home-Office zu arbeiten. Somit kann die Pandemie auch als ein starker Beschleuniger der Digitalisierung gesehen werden. Trotzdem befinden sich weite Teile der Verwaltung und des Mittelstands noch immer im analogen Mittelalter. Wir erlebten zu Beginn der Pandemie, dass Firmen ihre Mitarbeiter mit Reisekoffern ins Büro schickten, um Akten zu holen. Wie ist deiner Meinung nach der Status der Digitalisierung in Deutschland im internationalen Vergleich? Und warum setzen sich digitale Technologien hier als Disruptor des Papiers immer noch nicht durch?

Christoph Keese: Eine Mischung aus „Das Geschäft läuft zu gut, um wirklich was ändern zu wollen“, stark ausgeprägtem Konservatismus und ein zu frühes Haken machen bei der Digitalisierung. Wenn wir digitalisieren, digitalisieren wir meistens traditionelle Prozesse. Das Steuerportal Elster hat den Steuerfragebogen digitalisiert, aber den Prozess als solchen nicht verändert. Dabei wird oft behauptet, man habe einen Prozess digitalisiert. In Wahrheit ist er aber nicht digitalisiert, sondern einfach nur von Papier auf digital gehoben worden, ohne den Prozess als solchen nochmal grundlegend neu zu denken.

„Meistens sind die bestehenden Prozesse nicht reformiert, sondern einfach nur digitalisiert worden.“

Nach meiner Beobachtung werden die meisten Geschäftsführer in Deutschland zugeben, dass sie ein bisschen langsam mit der Digitalisierung ihrer Prozesse sind. Viele haben jetzt aber mittlerweile auch Land gewonnen, aber meistens sind die bestehenden Prozesse nicht reformiert, sondern einfach nur digitalisiert worden. Deshalb ist das Wort Digitalisierung auch nicht ohne Gefahr. Ich spreche lieber von Geschäftsmodellinnovation oder Prozessinnovation als von Digitalisierung, weil ich es den Leuten nicht so einfach machen möchte zu sagen: „Ich habe auch digitalisiert, weil ich von Fax auf E-Mail umgestellt habe“. Das kann nicht die Antwort gewesen sein.

Ein Dokument einzuscannen, es mit OCR zu behandeln und es so wiederauffindbar zu machen, ist das Eine. Die viel wichtigere Frage ist, warum das Dokument eigentlich noch erzeugt wurde. Wir hatten vor kurzem Philipp Sandner im Podcast. Er ist Professor für Blockchain an der Frankfurt School of Finance & Management. Er schilderte, dass er immer wieder beobachtet, dass keine Smart Contracts gemacht werden. Ether wird als Kryptowährung gesehen und nicht als Smart Contractwährung. Die meisten Dokumente gibt es überhaupt nur deswegen, weil die Leute nicht auf der Etherblockchain Eigentumstitel handeln. Sobald das passiert, ist das komplette Dokument obsolet. Die wahre Disruption in der Dokumentendigitalisierung ist die Verwaltung von Eigentumsrechten über Ether.

Jana Treptow
Jana loves writing and communication. That's why she is responsible for the editorial contributions and the maintenance of the blog. She is also the contact person for all press issues.

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